
Lokalkammer München UPC_CFI_63/2025
Anordnung des Gerichts erster Instanz des Einheitlichen Patentgerichts, erlassen am 22. Juli 2025
Leitsätze:
Im Rahmen von Regel 198.1 EPGVerfO (Aufhebung einer Anordnung der Beweissicherung im Falle verspäteter Einleitung des Hauptsacheverfahrens) ist zwischen Frist länge und Frist beginn zu unterscheiden. Während kein gerichtliches Ermessen zur Bestimmung der Fristlänge besteht, steht die Festlegung des Fristbeginns im Ermessen des Gerichts.
Das nach Regel 198.1 EPGVerfO bestehende Ermessen hinsichtlich der Festlegung des Fristbeginns umfasst auch eine spätere Änderung des Fristbeginns; eine Änderung des Fristbeginns kann insbesondere im Falle einer verspäteten Vorlage des Besichtigungsberichts durch den Sachverständigen veranlasst sein.
Ändert der Berichterstatter den Fristbeginn nach Regel 198.1 EPGVerfO, kann diese verfahrensleitende Anordnung nach Regel 333 EPGVerfO zur Überprüfung gestellt werden. Der Antrag auf Überprüfung ist innerhalb von 15 Tagen einzureichen; andernfalls erwächst die Anordnung zur Änderung des Fristbeginns in Rechtskraft.
ANTRAGSTELLERIN
Nanoval GmbH & Co. KG, Kienhorststraße 61-65, 13403 Berlin, Deutschland
vertreten durch: Phillip Rektorschek
ANTRAGSGEGNERIN
ALD Vacuum Technologies GmbH, Otto-von-Guericke-Platz 1, 63457 Deutschland vertreten durch: Bolko Ehlgen
STREITPATENT
EP 3 083 107
ENTSCHEIDENDE RICHTER
Diese Anordnung wurde durch den Vorsitzenden Richter Dr. Matthias Zigann und die rechtlich qualifizierten Richter Tobias Pichlmaier (Berichterstatter) und Dr. Walter Schober erlassen.
VERFAHRENSSPRACHE
Deutsch
GEGENSTAND DES VERFAHRENS
Antrag der Antragsgegnerin auf Aufhebung der Anordnung auf Beweissicherung und Inspektion nach Regel 198.1 EPGVerfO
Hanau,
SACHVERHALT
Die Antragstellerin hat am 24. Januar 2025 Beweissicherungsmaßnahmen und eine Inspektion nach Regeln 192 ff. EPGVerfO beantragt. Das Gericht hat am 3. Februar 2025 Beweissicherungsmaßnahmen und eine Inspektion ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin angeordnet. Ziffer XI. der Anordnung lautet:
'Die Anordnung der Beweissicherung wird auf Antrag der Antragsgegnerin unbeschadet etwaiger Schadenersatzforderungen aufgehoben oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt werden, wenn die Antragstellerin nicht innerhalb einer Frist von 31 Kalendertagen oder 20 Werktagen -je nachdem, welcher Zeitraum länger ist -ab dem 28. Februar 2025 das Hauptverfahren in der Sache einleitet (Regel 198.1 EPGVerfO).'
Regel 198.1 EPGVerfO lautet:
' Das Gericht stellt sicher, dass eine Anordnung der Beweissicherung auf Antrag des Antragsgegners, unbeschadet etwaiger Schadenersatz-forderungen, aufgehoben oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt wird, wenn der Antragsteller nicht innerhalb einer Frist von 31 Kalendertagen oder 20 Werktagen -je nachdem, welcher Zeitraum länger ist -ab dem in der gerichtlichen Anordnung, unter angemessener Berücksichtigung des Datums, bis zu dem der Bericht gemäß Regel 196.4 vorliegen soll, festgelegten Datum das Hauptverfahren in der Sache bei dem Gericht einleitet.'
Bei der Festlegung des Datums in Ziffer XI. der Anordnung ging das Gericht davon aus, dass der Bericht spätestens am 28. Februar 2025 vorliegen würde.
Tatsächlich lieferte der Sachverständige seinen Bericht jedoch nicht wie vorgesehen spätestens am 28. Februar 2025 ab. Die Abgabefrist wurde in Abstimmung mit dem Gericht mehrfach verlängert.
Mit E-Mail vom 17. März 2025 hat der Sachverständige dem Gericht mitgeteilt, dass er den Bericht fertiggestellt hat. Am 18. März 2025 hat der Berichterstatter angeordnet, den Bericht im CMS zugänglich zu machen. Gegenüber den Vertretern der Antragstellerin wurde angeordnet, den Bericht gegenüber der Antragstellerin bis zur Klärung etwaiger Geheimhaltungserfordernisse geheim zu halten. Ziffer 4. der Verfahrensanordnung vom 18. März 2025 lautet:
' Die in Ziff. XI. der Anordnung vom 3. Februar 2025 gesetzte Frist zur Einleitung des Hauptsacheverfahrens wird dahin angepasst, dass als Ausgangspunkt für die Fristberechnung nicht der 28. Februar 2025 gilt, sondern die Frist von 31 Kalendertagen oder 20 Werktagen -je nachdem, welcher Zeitraum länger ist -zur Einleitung der Hauptsacheklage ab dem Tag zu laufen beginnt, an dem der Bericht des Sachverständigen Nils T.F. Schmid und die Ergebnisse der Inspektion/Besichtigung gemäß Ziff. I der Anordnung vom 3. Februar 2025 der Antragstellerin zugänglich gemacht werden dürfen. '
Der Sachverständige hat den Bericht schließlich am 19. März 2025 im CMS zugänglich gemacht. Die Antragsgegnerin hat diesen sodann mit Schriftsatz vom 31. März 2025 in geschwärzter Fassung freigeben, woraufhin der Berichterstatter am 2. April 2025 anordnete, dass die geschwärzte Fassung der Antragstellerin zugänglich gemacht werden darf.
Das Verfahren in der Hauptsache wurde am 3. Mai 2025 eingeleitet.
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, die Antragstellerin habe nicht innerhalb der mit Anordnung vom 3. Februar 2025 in Ziffer XI. gesetzten Frist Klage erhoben. Die Frist sei am 31. März 2025 abgelaufen. Die Klageerhebung am 3. Mai 2025 sei daher nach Fristablauf erfolgt.
Mit der in Ziffer 4 der Anordnung vom 18. März 2025 vorgenommenen 'Neuanknüpfung' des Fristbeginns an den Tag, an dem der Bericht des Sachverständigen und die Ergebnisse der Inspektion/Besichtigung gemäß Ziff. I der Anordnung vom 3. Februar 2025 der Antragstellerin zugänglich gemacht werden dürfen, habe die Frist zur Klageerhebung nicht wirksam verlängern können. Gemäß R. 9.4 EPGVerfO sei die Frist aus R. 198.1 EPGVerfO nicht verlängerbar. Die Veränderung des Ausgangspunktes für die Fristberechnung vom 28. Februar 2025 auf den Tag, an dem der Bericht des Sachverständigen und die Ergebnisse der Inspektion der Antragstellerin zugänglich gemacht werden dürfen, umgehe R. 9.4 EPGVerfO. In der Wirkung unterscheide sich die Änderung des Anknüpfungspunktes für die Frist nicht von einer Verlängerung der Frist.
Die Antragsgegnerin hat daher am 15. Mai 2025 b e a n t r a g t ,
die Anordnung zur Beweissicherung und Inspektion der Lokalkammer München vom 3. Februar 2025 gem. Regel 198.1 VerfO, unbeschadet etwaiger Schadensersatzforderungen aufzuheben oder auf andere Weise außer Kraft zu setzen und in diesem Rahmen:
-Patentanwalt Nils T.F. Schmid, die bei der Beweissicherung anwesenden Vertreter der Antragstellerin sowie alle weiteren Personen, denen vertrauliche Informationen aus der Beweissicherung zugänglich gemacht wurden, zu verpflichten, die Informationen weiterhin vertraulich zu behandeln,
-(klarstellend) auszusprechen, dass die Antragstellerin und ihre Vertreter die aus der Beweissicherung erlangten Informationen -unabhängig von deren Vertraulichkeit -nicht für die Beweisführung im entsprechenden Verfahren in der Sache verwendet werden dürfen, und
-der Antragstellerin die Kosten des Beweissicherungsverfahrens aufzuerlegen.
Die Antragstellerin ist dem Antrag entgegengetreten und hat b e a n t r a g t ,
den Antrag der Antragsgegnerin vom 15. Mai 2025 auf Aufhebung der Anordnung zur Beweissicherung und Inspektion der Lokalkammer München vom 3. Februar 2025 zurückzuweisen und die Anordnung zur Beweissicherung und Inspektion der Lokalkammer München vom 3. Februar 2025 zu bestätigen;
der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Hilfsweise hat sie für den Fall, dass das Gericht wider Erwarten der Auffassung sein sollte, dass die Klage nicht innerhalb der gemäß R. 198.1 VerfO gesetzten Frist erhoben worden ist, hat sie b e a n t r a g t ,
festzustellen, dass die im Beweissicherungsverfahren erlangten, nicht vertraulichen Informationen in der von der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 31. März 2025 freigegebenen (geschwärzten) Fassung nebst Anlagen (soweit geschwärzt in der jeweiligen geschwärzten Fassung) weiterhin im Rahmen des Hauptsacheverfahrens verwertbar bleiben und keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen.
Auf die Begründung der Antragstellerin im Schriftsatz vom 6. Juni 2025 wird verwiesen.
BEGRÜNDUNG
Der Antrag auf Aufhebung der Anordnung vom 3. Februar 2025 hat keinen Erfolg.
Die Antragstellerin hat das Verfahren in der Hauptsache fristgerecht eingeleitet. Deshalb besteht kein Anlass, die Anordnung zur Beweissicherung und Inspektion der Lokalkammer München vom 3. Februar 2025 aufzuheben.
Für die Berechnung der Frist zur Einleitung des Verfahrens in der Hauptsache ist der in der Anordnung vom 18. März 2025 festgelegte Fristbeginn maßgebend.
Fristbeginn ist danach der Tag, an dem der Bericht des Sachverständigen und die Ergebnisse der Inspektion/Besichtigung gemäß Ziff. I der Anordnung vom 3. Februar 2025 der Antragstellerin zugänglich gemacht werden durften. Dabei handelt es sich um ein eindeutig bestimmbares Datum im Sinne von Regel 198.1 EPGVerfO. Das genannte Ereignis (Zugänglichmachung des Berichts gegenüber der Antragstellerin) trat am 2. April 2025 ein. Gemäß Regel 300(a) EPGVerfO begann die Berechnung mit dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem das maßgebliche Ereignis (Zugänglichmachen des Berichts) eingetreten ist. Dies ist der 3. April 2025. Der Zeitraum vom 3. April 2025 bis zum 3. Mai 2025, dem Tag der Einreichung der Hauptsacheklage, beträgt 31 Tage.
Soweit sich die Antragsgegnerin mit ihrem Antrag vom 15. Mai 2025 darauf beruft, mit der in Ziffer 4 der Anordnung vom 18. März 2025 vorgenommenen 'Neuanknüpfung' des Fristbeginns habe die Frist zur Klageerhebung nicht wirksam verlängert werden können, da die Frist aus Regel 198.1 EPGVerfO nicht verlängerbar sei, kann sie damit schon deshalb keinen Erfolg haben, da sie die entsprechende Anordnung des Berichterstatters nicht fristgerecht gemäß Regel 333 EPGVerfO zur Überprüfung gestellt hat. Damit ist die Anordnung vom 18. März 2025 in Rechtskraft erwachsen. Folglich hat die Berechnung der Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage auf Grundlage dieser Anordnung zu erfolgen.
Unabhängig davon ist festzustellen, dass die mit der Anordnung vom 18. März 2025 erfolgte Neubestimmung des Fristbeginns keinen Verstoß gegen die Verfahrensordnung darstellt.
Der Berichterstatter hat sich mit der Änderung des Fristbeginns nicht über Regel 9.4 EPGVerfO hinweggesetzt. Nach Regel 9.4 EPGVerfO darf die in Regel 198.1
EPGVerfO genannte Frist vom Gericht nicht verlängert werden. In diesem Zusammenhang ist zwischen Frist länge und Frist beginn zu unterscheiden. Nach Regel 9.4 EPGVerfO ist das Gericht nicht befugt, die in Regel 198.1 EPGVerfO genannte Frist (' Frist von 31 Kalendertagen oder 20 Werktagen ' ) zu verlängern; das Gericht darf dem Antragsteller also beispielsweise nicht eine Frist von 40 statt der in der Verfahrensordnung vorgesehenen 31 Kalendertage gewähren, um das Hauptsacheverfahren einzuleiten. Insofern hat das Gericht keinerlei Ermessen.
Demgegenüber räumt die Verfahrensordnung dem Gericht in Regel 198.1 EPGVerfO insofern Ermessen ein, als es um die Bestimmung des Frist beginns geht ( '… ab dem in der gerichtlichen Anordnung [festgelegten Datum] unter angemessener Berücksichtigung des Datums, bis zu dem der Bericht gemäß Regel 196.4 vorliegen soll …'). Die Verfahrensordnung zeigt dabei auch den für die Ermessensausübung wesentlichen Maßstab auf (' Berücksichtigung des Datums, bis zu dem der Bericht … vorlieg t').
Der Verfahrensordnung lässt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht entnehmen, dass das Gericht den von ihm nach Regel 198.1 EPGVerfO bestimmten, auf einer Prognose der Vorlage des Berichts beruhenden Fristbeginn, später nicht mehr abändern darf. Regel 198.1 EPGVerfO ist vielmehr dahin zu verstehen, dass es ermessensfehlerhaft wäre, eine Änderung des Fristbeginns nicht anzuordnen, wenn sich die Vorlage des Berichts entgegen der ursprünglichen Prognose des Gerichts verzögert. Denn dadurch würde der Zeitraum, der dem Antragsteller mit Regel 198.1 EPGVerfO als angemessen zugestanden wird, um die Einleitung des Hauptsacheverfahrens zu prüfen und vorzunehmen, zu Lasten des Antragstellers verkürzt. Dies ist offensichtlich nicht im Sinne der Verfahrensordnung, weshalb eine Neubestimmung des Fristbeginns im Falle einer verspäteten Vorlage des Berichts nach der Verfahrensordnung ohne weiteres möglich ist. Das nach Regel 198.1 EPGVerfO bestehende Ermessen hinsichtlich der Festlegung des Fristbeginns umfasst daher auch eine spätere Änderung des Fristbeginns
Der vorliegende Fall zeigt die Notwendigkeit der Neubestimmung des Fristbeginns besonders deutlich:
Mit der ursprünglichen Anordnung vom 3. Februar 2025 ging das Gericht davon aus, dass der Bericht am 28. Februar 2025 vorliegen dürfte und legte dem entsprechend den Fristbeginn fest. Allerdings wurde der Bericht dem Gericht erst am 17. März 2025
vorgelegt, wobei dann noch eine Überprüfung auf geheimhaltungsbedürftige Informationen durch die Antragsgegnerin zu erfolgen hatte, ehe der Bericht am 2. April 2025 in einer geschwärzten Fassung der Antragstellerin zugänglich gemacht werden durfte. Ausgehend von der ursprünglichen Fristberechnung hätte die Antragstellerin folglich über die Einleitung des Hauptverfahrens entscheiden müssen, ohne dass ihr der Bericht vorgelegen hätte -ein offensichtlich absurdes und der Verfahrensordnung evident widersprechendes Ergebnis.
Soweit der Vertreter der Antragsgegnerin behauptet, die Lokalkammer München habe im Verfahren UPC_CFI_755/2024 mit Anordnung vom 09.12.2024 bereits entschieden, dass das Einheitliche Patentgericht bei der Fristsetzung nach Regel 213.1 VerfO kein Ermessen habe (Schriftsatz vom 15. Mai 2025 Rn. 11 in App_23201/2025 UPC_CFI_63/2025), stellt er die Ausführungen in der genannten Anordnung falsch dar. Der entsprechenden Anordnung ist ohne weiteres zu entnehmen, dass der Bitte der dortigen Antragstellerin, von einer Fristsetzung mit Blick auf eine Hauptsacheklage abzusehen , nicht entsprochen werden konnte, da Regel 213.1 EPGVerfO insofern kein Ermessen eröffnet. Der Vertreter der Antragsgegnerin wird auf Art. 48 Abs. 6 EPGÜ und Regel 291 EPGVerfO hingewiesen und erneut (siehe schon Anordnung vom 28. Mai 2025), aber auch letztmalig ermahnt, wahrheitsgemäß vorzutragen . Diese letztmalige Ermahnung gilt gleichermaßen für das Verfahren in der Hauptsache.
Es ergeht folgende
ANORDNUNG
Den Antrag der Antragsgegnerin vom 15. Mai 2025 auf Aufhebung der Anordnung zur Beweissicherung und Inspektion der Lokalkammer München vom 3. Februar 2025 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Dr. Zigann
Vorsitzender Richter
Dr. Schober
Rechtlich qualifizierter Richter
Pichlmaier
Rechtlich qualifizierter Richter